16 Jan '23

Rettungsdienst in Lippstadt warnt vor dem Kollaps

Der Rettungsdienst in Lippstadt steht mit dem Rücken zur Wand: Die Einsatzkräfte sind am Limit, Überstunden sind derzeit die Regel. Steigende Einsatzzahlen, Notrufe wegen Bagatellen, kein Personal – die Lage ist Ernst. Der Rettungsdienst braucht selbst Hilfe. Eine grundlegende Reform muss her.

Sie hetzen mit Notfallrucksack, EKG-Gerät und Trage von Einsatz zu Einsatz: die Mitarbeiter des Rettungsdienstes – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. 2022 sind die Einsatzkräfte allein in Lippstadt zu 16748 Einsätzen ausgerückt; durchschnittlich sind’s für die Retter 46 Einsätze pro Tag. Im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von rund zehn Prozent.

„Die Wache in Lippstadt fährt im Kreis Soest mit Abstand die meisten Einsätze“, sagt Christian Meyer, Leiter des Fachdienstes für Brandschutz und Rettungsdienst bei der Stadt Lippstadt. „Die Belastungsgrenze ist längst erreicht.“ Das gilt nicht nur in Lippstadt, sondern bundesweit. Im Rettungsdienst beträgt die wöchentliche Arbeitszeit in der Regel 48 Stunden – derzeit sind Überstunden an der Tagesordnung. „Der Rettungsdienst steht mit dem Rücken zur Wand“, sagt der stellvertretende Fachdienstleiter David Westerfeld. Die Gründe: steigende Einsatzzahlen, Notrufe wegen Bagatellen, längere Einsatzzeiten, zu wenig Personal – der Arbeitsmarkt ist leer gefegt. Eine Reform des Rettungsdienstes sei überfällig. Die Politik müsse mit den Verantwortlichen im Gesundheitswesen Lösungen finden. „Es gibt viele Oberproblematiken, die bundesweit angepasst werden müssen“, sagt David Westerfeld. „Wenn nicht massiv gegengesteuert wird, kollabiert das System“, sagt Christian Meyer.

Schnupfen ist kein Notfall

Die Arbeitsbelastung im Rettungsdienst ist extrem hoch. „Die Zahl der Bagatell-Einsätze steigt seit Jahren“, sagt Christian Meyer. Daniel Diers (34) und Florian Schäfer (34) können ein Lied davon singen: Die Notfallsanitäter und (Haupt-)Brandmeister sind an der Wache in Lippstadt im Einsatz. Die Bilanz einer 24-Stunden-Schicht: Florian Schäfer wurde mit dem Rettungswagen zu insgesamt 13 Einsätzen alarmiert. „Sechs Patienten haben wir tatsächlich ins Krankenhaus gebracht“, sagt der 34-Jährige mit Blick auf relevante Erkrankungen. Bei den anderen sieben Einsätzen seien die Patienten „kein Fall fürs Krankenhaus gewesen“ – etwa mit fiebriger Erkältung und Magen-Darm-Infektion. „Die Hemmschwelle ist gesunken“, sagt Daniel Diers.

Oftmals ständen die Patienten bereits mit gepackter Tasche da. „Man fühlt sich als Taxi. Das ist ärgerlich.“ Nachts werden die Rettungsdienstmitarbeiter zum eingewachsenen Zehennagel alarmiert – „ein kleines Beispiel“. Oder eben zur Erkältung, die der Patient hätte längst beim Arzt abklären lassen können. „Die Bequemlichkeit ist sehr hoch“, sagt Daniel Diers mit Blick auf Bagatell-Einsätze. Das zehrt an den Kräften der hoch qualifizierten Fachkräfte. Nicht alle Menschen wissen offenbar, was der Rettungsdienst kann. „Ein Notfallsanitäter hat nach der dreijährigen Ausbildung die höchste nicht ärztliche Qualifikation“, sagt David Westerfeld. „Danach kommt nur noch der Notarzt.“

116 117 für weniger dringliche Fälle

„Wir kommen gerne zu den Patienten und lieber einmal zu viel als einmal zu wenig“, sagt Daniel Diers. Doch Bagatell-Einsätze seien frustrierend. Sie gehen zulasten der Rettungsdienstmitarbeiter und der Patienten, die die Notfallsanitäter tatsächlich dringend brauchen – im richtigen Notfall. Für weniger dringliche Fälle (die nicht lebensbedrohlich sind, aber auch nicht warten können) wäre neben dem Hausarzt der ärztliche Bereitschaftsdienst – erreichbar unter der 116?117 – ein Ansprechpartner, inklusive medizinischer Beratung, die ein Disponent in der Rettungsleitstelle in der Kürze der Zeit des Notrufs und in der Pflicht, ein Rettungsmittel zu entsenden, kaum leisten kann. Hier ist zügiges Handeln angesagt. Im Ernstfall zählt jede Sekunde. Anrufer neigten in der persönlichen Stresssituation zum Über- und andere zum Untertreiben, berichten die Retter. Die Einsatzkräfte müssen immer auf alles vorbereitet sein.

„Eine hohe Zahl der Einsätze landet im falschen System“, sagt Christian Meyer. Ein Disponent benötige zusätzliche „Filtermöglichkeiten“. Zudem komme es immer häufiger vor, dass Patienten keinen Hausarzt haben oder auch die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes nicht bekannt sei. Das betrifft etwa 90 Prozent, schätzt David Westerfeld. Beim ärztlichen Bereitschaftsdienst seien – wie bei einem normalen Arztbesuch auch – Wartezeiten normal. Der Notruf 112 ist rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr erreichbar. Der Rettungsdienst kommt sofort. Das wüssten auch einige.

„Das geht zulasten des ganzen Systems“, sagt David Westerfeld. „Wir sind überlastet, Krankenhäuser auch.“ Trotzdem: „Wir helfen lieber zu viel als zu wenig“, sagt Westerfeld. „Jeder gibt sein Bestes – auch in der Überlastung“, verweist er auf das Berufsethos. Gleichzeitig wünschen er und seine Kollegen sich von der Bevölkerung, mehr „gesunden Menschenverstand“ und mehr „Selbsthilfe“. Das Wissen darum sei verloren gegangen.

Drei Rettungstransportwagen sind in der Lippe-Stadt rund um die Uhr stationiert. Um einen Rettungswagen zu besetzen, sind planerisch fünf Mitarbeiter nötig.

Im Notfall hilft auch die Feuerwehr

Zusätzlich ist im Rettungsdienstbedarfsplan des Kreises Soest (der Kreis ist Träger des Rettungsdienstes) ein sogenannter Tagesrettungstransportwagen an der Lippstädter Feuer- und Rettungswache, mit mehr als hundert Hauptamtlichen, vorgesehen. „Dafür fehlt das Personal“, sagt Christian Meyer. Darüber hinaus besetzt der Rettungsdienst in Lippstadt einen Krankentransportwagen (nicht für Notfalleinsätze, sondern für Krankentransporte) und ein Notarzteinsatzfahrzeug, stationiert an einem der Krankenhäuser.

Sind alle Rettungsmittel zu Einsätzen unterwegs, rücken in Lippstadt im Notfall auch Einsatzkräfte der Feuerwehr mit dem Hilfeleistungslöschfahrzeug aus – als sogenannte „First Responder“. Möglich ist es, weil die Feuerwehrkräfte medizinisch ausgebildet sind, erklärt David Westerfeld. Das Fahrzeug sei entsprechend ausgestattet. „So können wir das therapiefreie Intervall verkürzen.“ Nur der Patienten-Transport ins Krankenhaus ist mit dem Feuerwehrfahrzeug nicht möglich. Den übernehmen dann wieder die Kollegen mit dem Rettungswagen – in das nächstgelegene freie Krankenhaus. Schon jetzt verlängerten sich wegen ausgelasteter Betten Einsatzzeiten. Mit der Krankenhausstrukturreform und einer damit einhergehenden Spezialisierung rechnen die Retter mit noch längeren Transportzeiten. Auch die Corona-Pandemie habe die Situation verschärft: Rettungswagen mussten deutlich öfter desinfiziert werden, waren erst nach einer gewissen Zeit wieder einsatzbereit. „Das war eine Hausnummer“, erinnert sich Florian Schäfer.

Die hohe Arbeitsbelastung der Retter geht an die Substanz. Die Überstunden sammeln sich: „Die Stundenentwicklung steigt stetig“, sagt David Westerfeld. Die steigende Belastung wirke sich aber nicht auf die tarifliche Bezahlung aus. Derzeit sei statt der 48-Stunden-Woche eher die 72-Stunden-Woche die Regel, sagt Florian Schröder. Zwischen den Schichten müssen die Einsatzkräfte Ruhezeiten einhalten, mindestens 24 Stunden frei haben. „Das System brennt“, sagt Daniel Diers. Schon eine 24-Stunden-Schicht sei „belastend. Man ist ausgebrannt und braucht danach eine gewisse Zeit, um runter und wieder auf ein Level zu kommen. Das wirkt sich auch auf das Privatleben aus.“ Das Verständnis von Familie und Freunden – es ist immens wichtig. Viel Freizeit bleibt nämlich nicht.

Gefahr, dass Mitarbeiter ausbrennen

„Es besteht die Gefahr, dass Mitarbeiter ausbrennen“, sagt Christian Meyer. Die Überstunden sollen zwar schnellstmöglich abgefeiert werden. Aber wie, wenn es keine Kollegen gibt, die den Dienst übernehmen? Personalflucht, attraktivere Alternativen in angrenzenden Berufsfeldern wie zum Beispiel der Feuerwehr und Fachkräftemangel machen die Situation schwierig – nicht nur in Lippstadt. „Der Markt ist abgegrast“, sagt David Westerfeld. „Notfallsanitäter werden überall gesucht.“ Der Bedarf sei groß, die Konkurrenz extrem. Diejenigen, die auf Jobsuche sind, könnten sich den besten Arbeitgeber aussuchen – eine kleinere Wache zum Beispiel mit geringerer Arbeitsbelastung. Im vergangenen Jahr hätten sich nicht einmal eine Handvoll ausgebildete Notfallsanitäter in Lippstadt beworben. Der Rettungsdienst sucht per Dauerausschreibung. „So schnell kann gar nicht ausgebildet werden“, sagt Westerfeld. Auch nicht in Lippstadt. Immerhin: Die Ausbildung sei gefragt, weiß Meyer. Acht Notfallsanitäter werden hier derzeit ausgebildet. Allerdings: Feuerwehrkräfte, die sich zum Notfallsanitäter weiterqualifizieren, stehen während der (immerhin um ein halbes Jahr verkürzten) Ausbildung nicht zur Verfügung.

„Der beste Job der Welt“

Dazu bemerken die Einsatzkräfte mit Blick auf Berlin und die Silvesternacht: „Der Wind wird rauer“, sagt Christian Meyer. Im ländlich geprägten Bereich seien verbale und körperliche Angriffe zwar die Ausnahme. Trotzdem: „Die Entwicklung ist sehr erschreckend“, sagt David Westerfeld. „Wir wollen nur helfen.“

Trotz der Belastung: Daniel Diers und Florian Schäfer würden sich immer wieder für ihren Job entscheiden. Daniel Diers kommt aus einer „Feuerwehrfamilie“, sein Vater ist Berufsfeuerwehrmann in Kassel. „Die Kameradschaft und die Kollegen halten einen am Leben“, sagt er. Die Arbeit schweiße zusammen. „Wir machen unsere Arbeit gewissenhaft. Ich behandele meine Patienten so, wie ich meine Familie behandeln würde“, sagt er. Zudem schätzt er die Vielfältigkeit seines Berufs: „Kein Tag ist gleich. Das macht es interessant. Wir laufen dahin, wo andere weglaufen.“ Auch Florian Schäfer ist mit Herzblut dabei: „Es ist der beste Job der Welt – trotz der Belastung“, sagt er, ohne zu zögern. Die Retter wünschen sich, dass der Rettungsdienst aus dem Schattendasein tritt: „Es wäre schön, wenn der Rettungsdienst in der Gesellschaft einen anderen Stellenwert bekommt.“

Text und Fotos: Carolin Cegelski (Der Patriot)

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