20 Feb '23

Sanitäter-Exodus: Personeller Aderlass beim Rettungsdienst in Lippstadt

Der Rettungsdienst in Lippstadt hat Ende vergangenen Jahres einen ungeahnten personellen Aderlass verkraften müssen. In den vergangenen Wochen haben mehrere Feuerwehrleute die Wache verlassen, darunter eine Handvoll Notfallsanitäter. Begünstigt wird der Exodus durch die, so Fachbereichsleiter Joachim Elliger, „starke Konkurrenz“ unter den Rettungsdiensten, die bundesweit händeringend Mitarbeiter suchen.

Anlass dafür, dass sich der Stadtrat in seiner jüngsten Sitzung mit dem Rettungsdienst befasste, war eine Anfrage der AfD. Die Antwort der Verwaltung stieß bei den Rechtspopulisten auf Kritik. Vor einigen Monaten habe Fachbereichsleiter Elliger noch von „normaler Fluktuation“ gesprochen, sei die AfD „abgekanzelt“ worden, so Ratsmitglied Florian Maas. Das widerspreche aber dem, was kürzlich im Patriot zu lesen gewesen sei. Er frage sich, so Maas, „ob wir damals hinters Licht geführt wurden“.

Sechs Beamte sind weg, fünf vor dem Absprung

In dem Bericht war vom drohenden Kollaps des Rettungsdienstes die Rede, extremen Zuwächsen bei den Einsatzzahlen (von 12?100 im Jahr 2019 auf über 16?700 im Jahr 2022), von Personalknappheit, sich auftürmenden Überstunden und am Limit befindlichen Mitarbeitern. „Der Rettungsdienst steht mit dem Rücken zur Wand“, hatte Fachdienst-Vize David Westerfeld im Januar im Patriot-Gespräch gesagt.

Den Täuschungsvorwurf der AfD wies Elliger („Ich bin erschüttert“) in der Ratssitzung als „voll daneben“ zurück. Er habe nichts verheimlicht und „nichts Falsches erzählt“, als er seinerzeit über die Situation berichtet habe. „Im September waren alle Stellen besetzt.“

Allerdings hat seitdem eine Abwanderung in größerem Stil stattgefunden. Zwar nannte Elliger in der Ratssitzung keine Zahlen. Auf Patriot-Nachfrage teilte Feuerwehr-Chef Christian Meyer, Leiter des Fachdienstes Brandschutz/Rettungsdienst, aber mit, dass sich seit September bis Jahresende sechs Feuerwehrbeamte zu anderen Dienststellen versetzen ließen, von fünf weiteren lägen Versetzungsanträge vor; bei den Angestellten ist die Fluktuation „bereits seit Jahren sehr hoch“.

Darunter seien fünf Mitarbeiter, die die Qualifikation als Notfallsanitäter bzw. Rettungsassistent hatten. Zur Einordnung: Für den 24-Stunden-Betrieb eines Rettungswagens (RTW), der immer mit einem Notfallsanitäter und einem Rettungssanitäter besetzt ist, an 365 Tagen im Jahr sind fünf Notfallsanitäter und fünf Rettungssanitäter erforderlich. Sprich: Schon der bisherige Exodus legt, rein rechnerisch, einen RTW halb lahm.

„Der Bedarf an Feuerwehr- und Rettungskräften war bundesweit noch nie so hoch wie derzeit, der Markt noch noch nie so umkämpft“, so Stadtsprecherin Julia Köller. Woanders habe dieser Wettbewerb „schon viel früher zum Notstand geführt“, sagte Elliger in der Ratssitzung. Dass Lippstadt bislang davon verschont blieb, sei „Zufall“.

„Blaulichtnomaden bei uns noch kein Thema“

Die Bedingungen für einen Arbeitsplatzwechsel sind offenbar sehr gut, die Mitarbeiter können sich quasi den Job aussuchen. Das eröffnet auch freiberuflichen Notfallsanitätern ein weites Feld. Die ziehen als „Blaulichtnomaden“, wie der Spiegel kürzlich schrieb, von Wache zu Wache und bieten zu überdurchschnittlich hohen Stundensätzen ihre Dienste an. „Blaulichtnomaden sind bei uns aber noch kein Thema“, so Köller auf Nachfrage.

Laut Elliger stehen die Rettungsdienste in „starker Konkurrenz“ zueinander bzw. im Wettbewerb mit Leitstellen (wo die Beschäftigten teils keine Rettungseinsätze fahren müssen). So wanderten Mitarbeiter etwa zur Leitstelle nach Soest ab. „Die ziehen auch unsere Leute ab. Dort haben sie für das gleiche Geld weniger Stress.“

Zu den möglichen Gründen für einen Wechsel schreibt Feuerwehr-Chef Meyer in der Sitzungsvorlage, eine vorläufige Analyse der Wechselmotive habe ergeben, dass diese „im Wesentlichen mit Wohnortnähe, Leitstellentätigkeit ohne Rettungsdienstanteil und auch zum Teil mit fehlenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten zu tun haben“. Klar ist, dass die „derzeit unzureichende Personaldecke“ zu vermehrten Überstunden führen dürfte – und so wiederum zu mehr Frust und Unzufriedenheit bei den verbleibenden Kollegen.

Und der Aderlass dürfte nach Einschätzung Meyers anhalten. Es sei aufgrund der allgemeinen Marktlage „nicht unwahrscheinlich, dass sich weitere Mitarbeiter bei anderen Dienststellen bewerben“.

Dieser Entwicklung will die Verwaltung nicht tatenlos zusehen. „Wir reagieren darauf“, so Elliger. Es gebe „verschiedene Ansätze, damit wir diese Lücke nicht mehr haben“. So gelte es etwa, die Belastung im Rettungsdienst herunterzuschrauben und den Schichtdienst besser planbar zu gestalten.

In der Vorlage schreibt Meyer, dass das Modell des 24-Stunden-Schichtdienstes aufgrund der hohen Einsatzzahlen „arbeitsschutzrechtlich kritisch zu hinterfragen“ sei. Es sei erkennbar, dass „Mitarbeiter zum Ende der Schicht nicht mehr vollumfänglich leistungsfähig sind“.

Feuerwehr: „Weichenstellungen für Jahrzehnte“

Die Probleme im Rettungsdienst und die Herausforderungen für die Feuerwehr waren auch Gegenstand von zwei Anträgen, die die SPD in den jüngsten Haushaltsberatungen gestellt hatte. Zum einen forderten die Sozialdemokraten angesichts der Notlage beim Rettungsdienst eine externe Organisationsuntersuchung des betroffenen Fachdienstes. Bürgermeister Arne Moritz sagte, dass dies Ziel der Stadt sei. Die Verwaltung wolle Angebote einholen und das dann der Politik vorstellen. Auch Fachbereichsleiter Joachim Elliger, der die Kosten auf etwa 30?000 Euro bezifferte, erklärte, dass diesbezüglich Einigkeit bestehe. So wird nun, so der einstimmige Beschluss, auch verfahren.

Die ebenfalls von der SPD geforderte Fortschreibung des Brandschutzbedarfsplans, der Aussagen zu Hilfsfristen, Gebäuden und Arbeitsschutz bei der Feuerwehr trifft, wird von der Verwaltung sowieso durchgeführt – zumal sie gesetzlich alle fünf Jahre vorgeschrieben ist; der letzte Plan datiert von 2018. Ob dies mit gutachterlicher Begleitung (Kosten: 30?000 Euro) geschieht, ist noch offen. Bürgermeister Arne Moritz sagte, es werde geprüft, ob das mit internen Mitteln möglich sei. Feuerwehr-Chef Christian Meyer erklärte, dass es „üblich ist, dass ein externer Gutachter hinzugezogen wird“. Das sei auch „sehr wichtig und sehr ratsam“. Schließlich gehe es um „Weichenstellungen für Jahrzehnte“.

Quelle: Eckhard Heienbrok (Der Patriot - Lippstädter Zeitung)

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