30 Mai '22

„Lippstadt hat Glück gehabt“

Es sind Bilder, die kein Lippstädter vergessen wird: Vor acht Tagen hat der Tornado Lippstadt getroffen – in einer gut 500 Meter breiten Schneise eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Mehr als 800 Einsatzkräfte waren am Freitag im Einsatz, um zu helfen. Zwei Feuerwehrleute, zwei Tornado-Perspektiven.

„Es ist unwirklich“, sagt Dieter Dreier. „Es sind alle Emotionen dabei. Angst, Wut, Hilflosigkeit und Dankbarkeit.“ Der 63-Jährige ist Feuerwehrmann bei der Freiwilligen Feuerwehr in Lippstadt. Am Freitag war er nicht im Dienst – und trotzdem mittendrin. So wie Dominik Nelke. Der 28-jährige Feuerwehrmann ist einer von den mehr als 800 Einsatzkräften, die geholfen haben.

Dieter Dreier und seine Frau leben in der Mühlenstraße. „Es hat gerummst und gekracht, ein paar Blitze, Regen. Eigentlich eine völlig normale Situation.“ Schon am Donnerstag hat er den Garten gesichert, die Blumenkästen vom Balkon in den Keller getragen. „Meine Frau sagt immer: ‚Du bist bescheuert.’“ Doch es zahlt sich aus. Ihre Wohnung liegt „in der Zugbahn des Tornados. Den Moment werde ich nie vergessen.“ Im Schlafzimmer drückt der Wirbelwind die geschlossenen Fenster auf – Dieter Dreier und seine Frau stemmen sich dagegen. Dann ist der Spuk vorbei.

Dominik Nelke trinkt derweil zu Hause – rund einen Kilometer Luftlinie entfernt – einen Kaffee. Für den Außendienstmitarbeiter ist es der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub. Er will noch einige Aufgaben erledigen, Bürokram abarbeiten. „Kräftiger Regen, Blitze, kein Wind – ich habe gedacht: Das war’s“, sagt er. Unwetter? „In den meisten Fällen streift es uns nur“, sagt Dieter Dreier. „Lippstadt ist wie eine Glocke“, sagt Dominik Nelke. Dieses Mal nicht. Um 16.44 Uhr wird sein Löschzug, Löschzug eins, alarmiert, dann folgt der Wehralarm. „Das gibt’s nur, wenn Lippstadt in einer heftigen Notlage ist“, sagt Dieter Dreier.

Dominik Nelke setzt sich ins Auto: „Für viele Feuerwehrleute aus dem Lippstädter Norden war es unglaublich schwer, zur Wache zu kommen.“ Der Weg über die Dr.-Wilhelm-Röpke-Straße ist abgeschnitten. Der 28-Jährige dreht um, fährt über die B?55. Auch dort: Stau. Eine Mülltonne hat es in der Brückenbaustelle über die Fahrbahn gewirbelt. Abfall ergießt sich über die Fahrbahn, ein Baum ist vor einem Auto auf die Straße gekracht. „Die Hörster Kameraden haben eine Stunde gebraucht, um nach Lippstadt zu fahren“, sagt Dieter Dreier. „Sie mussten sich durchschneiden. Ein wahnsinniges Engagement. Alle wollten helfen.“

Dieter Dreier ist auf die Straße gelaufen, seine Frau kümmert sich um Nachbarn im Haus. „Ich habe vorsichtig geguckt, ob Menschen begraben oder verletzt sind“, sagt er. Dann tätigt der 63-Jährige einen Notruf. Die Nummer ist gefragt. Bis er durchkommt – „hat es gefühlt fünf Minuten gedauert, wahrscheinlich ging es aber viel schneller.“ Erst dann geht es mit Besen und Schaufel zurück auf die Straße. Auch die Nachbarn haben sich ausgestattet. „Die Anwohner waren so spitze“, sagt Dieter Dreier. Überhaupt die Nachbarschaftshilfe: „Wahnsinn“, sagt Dominik Nelke.

Feuerwehr und Rettungsdienst sind schnell da. „Die Feuerwehr hat sehr gut gearbeitet“, sagt Dieter Dreier. „Die Freiwilligen hatten schon einen Arbeitstag hinter sich und haben sich von einem Schaden zum anderen gekämpft.“

Dominik Nelke ist einer von ihnen. Die Fahrt durch das Trümmerfeld: „Unglaublich“, sagt der 28-Jährige. „Was man da gesehen hat, kennt man nur aus Filmen“ Die Einsatzkräfte haben zwar aus vergangenen Stürmen und Unwettern gelernt – „auf einen Tornado und die Masse an Einsätzen kann man sich nicht vorbereiten“, sagt Dominik Nelke.

Für ihn und seine Kameraden geht es zunächst in die Burgstraße. „Das war unheimlich.“ Herabgestürzte Dachziegel, umgestürzte Bäume, kaputte Autos, der abgebrochene Rauchschlot an der Burgmühle: kein Vor, kein Zurück. Die Wehrleute analysieren die Gefahr, bitten Anwohner darum, zurück in ihre Häuser zu gehen, und arbeiten Einsatzstelle für Einsatzstelle ab – auch wenn es dauert. „Schaden hin oder her: Das Menschenleben ist unheimlich wichtig.“

Die Koordination der Einsätze – „das muss eine Hausnummer gewesen sein“, sagt Dominik Nelke. Die Bilder machen die Einsatzkräfte sprachlos. Der Zwiespalt: „Wir bekommen einen Einsatz – und fahren dann an Leuten vorbei, denen wir eigentlich helfen möchten, es in dem Moment aber nicht können, weil es an anderer Stelle gerade ganz wichtig ist. Damit muss man als Feuerwehrmann echt klarkommen.“ Er ist überzeugt: „Das war eine Mammutaufgabe für den Stab, die Informations- und Kommunikationseinheit – wir waren zwar nur ausführende Kräfte, aber jeder hatte damit extrem zu kämpfen.“

„Die Einsatzkräfte haben sehr effektiv und präzise gearbeitet“, sagt Dieter Dreier. „Immer mit der Prämisse, man könnte etwas finden. Man sah ja nicht, was unter dem Grünzeug war. Mit jeder Einsatzstelle, die freigeräumt war, merkte man den Ruck, der durch die Einsatzkräfte ging“, sagt der 63-Jährige. „So haben sie sich Stück für Stück vorgekämpft.“ Er sagt: „Die Kameraden haben eine Wahnsinnsleistung abgeliefert – auch im Hintergrund. Sie haben gearbeitet ohne Ende.“ Übrigens: Selbst die Alters- und Ehrenabteilung mischt mit – kümmert sich (am Wochenende) mit um die Ausgabe der Verpflegung der Einsatzkräfte: „Ohne Mampf, kein Kampf.“

Von der Burgstraße geht es für Dominik Nelke und seine Kameraden zur Beckumer Straße – die Straße ist nicht zu erkennen: Bäume, Dachteile, Photovoltaikanlagen, ein Blechhaufen: „Wenn da keiner drunterliegt – Chapeau“, erinnert sich der 28-Jährige an die Bilder. „Lippstadt hat unglaublich viel Glück gehabt“, sagt er. Bis halb drei ist der Lippstädter im Einsatz – später auch Am Weinberg, mit die „größte Baustelle“.

Immer wieder begegnen den Einsatzkräften Menschen, die zum Schauen kommen: „Das war etwas, dass ich absolut hässlich fand“, sagt Dieter Dreier. „Einerseits behindern sie die Leute bei der Arbeit, andererseits bringen sie sich selber in Gefahr und das auf Kosten von Menschen, die betroffen sind. Das interessiert keinen“, sagt Dreier. „Wenn du was machen willst, nimm die Schaufel“, habe er einen Gaffer dazu aufgefordert, die Straße für Rettungsmittel mit frei zu machen. Auch Dominik Nelke berichtet von Menschen, die ohne Rücksicht auf Verluste, durch Einsatzstellen gelaufen sind: „Wir haben versucht, die Leute aufzuhalten. Die gehen da stur durch.“ Festhalten können die Einsatzkräfte sie nicht.

Viele Eindrücke kommen erst später: „Im Einsatz hat man es nicht wahrgenommen. Das kommt später, wenn man ruhiger wird. Wenn der Melder geht, schießt das Adrenalin in den Körper“, sagt Dominik Nelke. Nach dem Einsatz hilft reden: „Man braucht nach jedem Einsatz ein offenes Ohr“, sagt er. „Sei es, nachdem man jemanden geborgen hat oder die Katastrophe, die man gesehen hat. Das geht jedem ans Herz.“

Text und Foto: Der Patriot - Lippstädter Zeitung

„Lippstadt hat Glück gehabt“