22 Mai '22

Interview: „In Lippstadt geht die Welt unter“ - der Moment, in dem der Tornado wütete

Nach dem Tornado in Lippstadt spricht Kreisbrandmeister Thomas Wienecke über den Großeinsatz, über das Ernstnehmen von Warnungen und den Moment, in dem der Einsatzleitung bewusst wurde, was in Lippstadt passiert ist.

Die Radarbilder ließen am Freitagnachmittag bereits vermuten, dass das angekündigte Unwetter den Kreis Soest verschonen würde. Doch plötzlich wurde Lippstadt mit voller Gewalt von einem Tornado getroffen. Redakteur Daniel Schröder sprach mit Kreisbrandmeister Thomas Wienecke über die Großlage und darüber, dass mancher die Wetter-Warnungen trotz der Erfahrungen durch die Flutkatastrophe 2021 noch immer nicht ernst nimmt.

Herr Wienecke, vor dem möglichen Unwetter am Freitag wurde weit im Vorfeld gewarnt - auch vor Tornados. Doch gerade in den sozialen Medien gab es zu den Warnungen hämische Kommentare. Mancher behauptete, dass doch sowieso nichts passieren würde. Was geht Ihnen bei solchen Kommentaren durch den Kopf?

Thomas Wienecke: In den sozialen Medien wurden die Warnungen von vielen ins Lächerliche gezogen und bagatellisiert. Einige wollten sich dadurch wichtigmachen und unser Warnsystem diskreditieren. Ich finde es einfach dreist, sich über solch ernst gemeinten Warnungen lustig zu machen und es ins Lächerliche zu ziehen, wenn wir in die vorbereitenden Maßnahmen gehen und uns Gedanken darüber machen, wie wir rechtzeitig auf bestimmte Situationen regieren können. Nach der Flutkatastrophe wurde das gesamte Warnsystem noch einmal wesentlich verbessert. Doch bei Gewitterfronten verhält es sich anders als bei anderen Unwetterlagen.

Was macht solch eine Wetterlage so schwer kalkulierbar?

Gewitterzellen treten plötzlich auf oder zerfallen plötzlich. Und dann kommt auf einmal aus dem Nichts etwas - wie der Tornado. Im Vorfeld kann niemand genau abschätzen, wo ein Unwetter genau auftritt. Wer glaubt, dass er das kann, ist sicherlich ein Übermensch. Wir arbeiten mit Wissenschaftlern zusammen, bedienen uns sämtlicher Instrumente. Wenn wir jetzt im Nachgang sehen, dass eine Unwetterlage, vor der wir gewarnt haben, eingetreten ist, bestärkt uns das natürlich in unserem Handeln und zeigt uns, dass wir mit unseren generellen Vorplanungen richtig lagen und auf dem richtigen Weg sind.

Tornado in Lippstadt: „Absolute Herausforderung, mehr als 800 Helfer auf die Straße zu bringen“
Welche Schlüsse sollten aus dem Unwetter in Lippstadt gezogen werden?

Die Bevölkerung muss einfach erkennen, dass etwas dahintersteckt, wenn wir eine Warnung aussprechen. Natürlich kann es immer sein, dass ein Unwetterereignis nicht so stark eintrifft, wie berechnet. Das haben wir jetzt beim Kreis Soest gesehen: Selbst von der Stadt Lippstadt waren viele Bereiche nicht betroffen. Aber da, wo es dann zuschlägt, herrscht absolute Lebensgefahr.

Welche Erkenntnisse brachte das Unwetter aus Sicht der Einsatzleitung?

Festzustellen ist, dass dieses Extremereignis in dieser Form auch für uns nicht ersichtlich war. Wir haben mit allen Instrumenten, die auf dem Markt sind, gearbeitet. Anhand der Radarbilder sah es so aus, als würde der Kreis Soest tatsächlich von Starkregen und Gewittern verschont bleiben. Und unter dem Gesichtspunkt sind wir ja auch verschont geblieben. Dass sich dann allerdings ein Tornado bildet - wovor der Wetterdienst ja auch gewarnt hat - der mit einer solchen Wucht auftritt und durchzieht, völlig aus dem Nichts, das kam überraschend. Die Zelle war ja eigentlich schon fast durchgezogen. Doch weil wir so gut vorbereitet waren, konnten wir sofort den Hebel umlegen und eine extreme Anzahl von Kräften zusammenziehen. Es ist eine absolute Herausforderung, mehr als 800 Helferinnen und Helfer auf die Straße zu bringen und zielgerichtet einzusetzen. Da werden wir nie zu 100 Prozent alle zufrieden bekommen, weil eine solch riesige Lage so komplex ist und alle Räder genau ineinandergreifen müssen. Insgesamt hat es gut geklappt. An dieser Stelle gilt mein Dank allen beteiligten Kräften der Feuerwehren, Hilfsorganisationen, des THW, der Leitstelle und den Einheiten, die von außerhalb des Kreises Soest kamen.

Wie haben Sie den Moment erlebt, in dem die Einsatzleitung mitbekommen hat, was in Lippstadt passiert ist?

Wir hatten zwei, drei Minuten vorher noch die Karten analysiert. Die aktualisieren sich alle 20 Sekunden. Einen Tornado konnten wir nicht erkennen. Plötzlich kam der Leiter der Rettungsleitstelle in den Stabsraum und sagte zu mir: ‚Thomas, jetzt geht's los. In Lippstadt geht grad‘ die Welt unter.’ Sechs Brandmeldeanlagen hatten fast zeitgleich ausgelöst, der Notruf stand nicht mehr still. Da ist richtig massiv was passiert. Im Laufe der nächsten fünf bis sieben Minuten kristallisierte sich für uns bereits heraus, dass sich vermutlich ein Tornado gebildet hatte. Das ergab unsere Auswertung der Medien und der Bilder, die im Internet kursierten. In dieser Hinsicht sind die sozialen Medien nicht nur negativ, sondern auch positiv: Wenn die Leute alle etwas posten, bekommen wir noch schnelleren Input.

Wie ging es dann weiter?

Wir haben sofort Kontakt mit der Feuerwehr Lippstadt aufgenommen. Unsere Einschätzungen wurden von den Kräften vor Ort bestätigt. Dann haben wir entschieden, dass wir eine Führungsunterstützung nach Lippstadt entsenden. Es wurde eine Struktur aufgebaut, Abschnitte gebildet. Weil ein erhöhter Koordinierungsbedarf vorlag und aufgrund des massiven Kräfteansatzes, habe ich entschieden, dass ich die Einsatzlage übernehme. Gleichzeitig führte die Bewertung der Gesamtlage in Rücksprache mit der Landrätin dazu, dass alle Bedingungen für eine Großeinsatzlage erfüllt waren.

Was bedeutet diese Großeinsatzlage?

Das hat rechtliche Auswirkungen. Der Kreis Soest übernimmt die Einsatzlage komplett. Wir brauchen beispielsweise eine rechtliche Grundlage dafür, beim Einsatz von überörtlichen Kräften an den Grundschutz der einzelnen Kommunen zu gehen. Wir brauchten zum Beispiel einen massiven Einsatz von Drehleitern und Hubrettungsfahrzeugen. Das bedeutete jedoch, dass wir in den Grundschutz der einzelnen Städte und Gemeinden eingreifen. Zudem mussten wir breitflächig zusätzliche Einheiten aus dem überregionalen Bereich heranführen. Anfangs war zudem unklar, ob wir nicht noch eine größere Betreuungslage bekommen würden aufgrund der vielen abgedeckten Dächer und beschädigten Gebäude. Es wurde eine Betreuung für 500 Personen alarmiert. Die konnte aber nicht mehr von den Einheiten aus dem Kreis gestellt werden, sondern wurde über die Bezirksregierung aus dem Hochsauerlandkreis angefordert.

Es grenzt an ein Wunder, dass angesichts dieser Zerstörung niemand schwer verletzt worden ist. Haben sich die Leute vorbildlicher Verhalten oder war es pures Glück?

Wir können froh sein, dass niemand lebensgefährlich verletzt wurde. Wir wissen zwischenzeitlich, dass es Leichtverletzte gab, die sich allerdings selbst in Behandlung begeben haben und es daher zunächst keine Erkenntnisse darüber gab. Schwerere Verletzungen gab es nicht. Ich vermute, dass die intensiven Warnungen Früchte getragen haben und dass die Warnungen von den meisten, trotz mancher Kommentare von Einzelnen, verstanden und ernst genommen wurden. Natürlich kommt es immer situationsbedingt darauf an, wo ein Unwetter herzieht. In Paderborn wütete der Tornado in einem Bereich, in dem sich viele Leute aufhielten. Diese konnten sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen. Wir haben in dieser Hinsicht ein Stück weit Glück gehabt, dass der Tornado bei uns durch Bereiche gezogen ist, wo in dem Moment vielleicht gerade nicht ganz so viele Leute unterwegs waren wie sonst. Ein ganz entscheidender Punkt war, dass der Altstadtlauf im Vorfeld abgesagt worden ist. Der wäre genau in diesem Zeitraum gewesen. Man möchte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn eine solche Veranstaltung durchgeführt worden und in dem Moment solch ein Schadensereignis aufgetreten wäre. Das hätte uns - den Helferinnen und Helfern - die Schuhe ausgezogen.

Haben Sie solch eine Lage schon einmal erlebt?

In meinem Feuerwehrleben als Kreisbrandmeister erlebe ich immer wieder neue, extreme Herausforderungen. Diese Lage zählte dazu. Unwetterereignisse kommen näher. Zwischen 2011 und 2022 gab es bislang schon rund 30 dieser Ereignisse. Das sind mehr als zweieinhalb pro Jahr. Der Klimawandel ist schon lange bei uns angekommen. Alle Bürger tun gut daran, die Warnungen einfach mal zu akzeptieren, ohne zu meckern. Ich kenne die Situation in Island beispielhaft: Wenn dort vor einem Unwetter gewarnt wird, sind alle weg von den Straßen.

Da hört jeder drauf, es wird nichts infrage gestellt, auch wenn es mal umsonst war. Auch hier gab es nach der Hochwasserkatastrophe eine wesentliche Richtungsänderung. Da müssen wir weiter dran arbeiten. Alle Helfer geben ihr Bestes, das sollten alle wahrnehmen, bevor Kritik ausgeschüttet wird. Statt zu nörgeln, könnte man doch auch sagen: Super, die bereiten sich vor. Ich passe jetzt auch auf und gucke, dass ich zum Beispiel keine Spaziergänge draußen mache. Gleichzeitig sprechen uns viele Menschen Dank und Anerkennung aus. Das tut uns gut. Es bestärkt uns und bestätigt uns, welch hohe Qualität die ehrenamtliche Soforthilfe in unserem System hat.

Text und Foto: Daniel Schröder (Soester Anzeiger)

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