23 Dez '17

Erste Hilfe für die Seele

Fabrizio Battista ist auf dem Weg von Wolfsburg zurück nach Lippstadt, als sich am 26. September auf der Autobahn 2 zwischen dem Parkplatz Röhrse-Süd und Hämelerwald direkt vor ihm ein folgenschwerer Unfall ereignet. Der Fahrer eines Lkw fährt nahezu ungebremst auf einen Sattelzug auf, dessen Fahrer an einem Stauende bremsen muss. Der 59-jährige Lkw-Fahrer wird im Führerhaus eingeklemmt. Fabrizio Battista ist einer der ersten Helfer an der Unfallstelle. Notfallseelsorgerin Heike Gösmann hat ihm dabei geholfen, das Erlebte zu begreifen.

„Es ging alles ziemlich schnell“, erinnert sich Fabrizio Battista an den schrecklichen Unfall auf der Autobahn, den er aus nächster Nähe mit ansehen musste. Der 31-jährige Lippstädter ist sofort zur Stelle, um Erste Hilfe zu leisten. „Ich habe einfach funktioniert“, erinnert er sich an die bangen Minuten bis zum Eintreffen der Rettungskräfte. Battista versucht, den Lkw-Fahrer, der im Führerhaus eingeklemmt ist, wach zu halten, bis die Profis eintreffen.

Hinweis der Polizei zu Herzen genommen

Nach der Zeugenbefragung durch die Polizei darf er schließlich weiterfahren – die Beamten geben ihm allerdings einen wichtigen Hinweis mit auf den Weg: Wenn der Lippstädter mit dem Erlebten nicht zurechtkommt, soll er sich über die Feuerwehr an die Notfallseelsorge wenden. „Ich bin erstmal zur nächsten Raststätte gefahren, um einen Kaffee zu trinken und das Erlebte zu realisieren“, erinnert Fabrizio Battista sich.

Zurück in Lippstadt bekommt er die Nachricht, dass der Lkw-Fahrer, dem er am Mittag noch geholfen hat, seinen schweren Verletzungen erlegen ist. Battista zögert keinen Moment: Er wählt die Telefonnummer der Lippstädter Feuerwehr, um sich notfallseelsorglichen Beistand zu holen. „Ich habe einem Menschen beim Sterben zugesehen“, sagt er.

Notfallseelsorgerin Heike Gösmann hat an diesem Tag Bereitschaftsdienst. Sie hört Fabrizio Battista zu, gemeinsam sprechen sie über das Erlebte und überlegen, dass es „eine gute Idee“ wäre, wenn der 31-Jährige, der bei den Lippstädter Eagels trainiert, zum Sport geht, um „Dampf abzulassen“. Außerdem darf er sich jederzeit bei der Notfallseelsorgerin melden, wenn er über den Unfall sprechen möchte. „Das Gespräch hat mir gut geholfen“, sagt Fabrizio Battista dankbar für das Angebot. „Heute denke ich kaum noch an den Unfall.“

Dass sich Betroffene selbst melden, ist eine Ausnahme, sagt Heike Gösmann. Wenn die Seele eines Menschen in schwer zu ertragenden Situationen erste Hilfe braucht, ist die Notfallseelsorgerin und Fachberaterin für Traumatologie da, um „Menschen an ihre Grenzen zu begleiten und die Situation gemeinsam zu ertragen“, sagt die 54-Jährige. Seit 1999 ist die ausgebildete Rettungssanitäterin und Hauptfeuerwehrfrau ehrenamtliche Notfallseelsorgerin. Ein trauriger Einsatz gab den Impuls dazu: Während ihres Rettungsdienstpraktikums musste sie die Frau eines Mannes, der nicht wiederbelebt werden konnte, alleine zurücklassen. „Das hat mich fast mehr belastet als der Tod des Mannes“, erinnert sie sich. „Es muss einfach eine Garantie geben, dass Menschen in solch einer Situation nicht alleine sind.“

Mittlerweile hat sie bei mehr als 500 Einsätzen Menschen in seelischen Extremsituationen begleitet: bei Verkehrsunfällen, Naturkatastrophen, Unfällen im Haushalt, bei plötzlichem Kindstod, Gewalt oder Krisen an Schulen. Gösmann begleitet die Polizei beim Überbringen von Todesnachrichten, fängt Angehörige auf, wenn ein ihnen nahestehender Mensch Suizid begangen hat. In den meisten Fällen wird sie von den Einsatzkräften vor Ort alarmiert. Dann streift Heike Gösmann ihre lilafarbene Jacke mit dem gelb-roten Logo der Notfallseelsorge über, schnappt sich ihren Einsatzrucksack, steigt ins Auto und fährt los.

„Es gibt Einsätze, da muss ich selbst erstmal schlucken und bin sprachlos“, sagt sie. Aber sie ist für die Menschen da. „Es geht darum, zuzuhören, Fragen zu beantworten, zu erklären, Menschen Halt zu geben und ihnen eine Perspektive für den nächsten Tag aufzuzeigen“, sagt Gösmann.

Normale Reaktionen auf Unnormales

„Niemand muss eine seelische Extremsituation alleine aushalten.“ Das Gehirn benötige Zeit, um den Schock zu verarbeiten. „Es sind normale Reaktionen, normaler Menschen auf ein unnormales Ereignis“, sagt sie.

Trotz der traurigen Seiten ihrer Arbeit, hat Heike Gösmann dabei ein positives Gefühl: „Ich leiste sinnvolle Präventionsarbeit“, sagt sie. „Es ist ein unglaubliches Geschenk zu sehen, wie dankbar die Menschen sind, zu wissen, sie wieder auf einen Weg gebracht zu haben, und das zu geben, was ich mir in einer solchen Situation auch wünschen würde.“

Kontakt

„In den seltensten Fällen kontaktieren uns die Betroffenen selbst“, sagt Heike Gösmann. Die Notfallseelsorgerin wird von Feuerwehr, Polizei oder Rettungsdienst gerufen. „In Akutsituationen werden wir von den verantwortlichen Einsatzkräften alarmiert.“ Falls jemand nach einem schockierenden Erlebnis Hilfe in einer schweren Stunde benötigt, kann die Notfallseelsorge im Kreis Soest über die Rettungsleitstelle, die Feuerwehr, die Polizei oder den Rettungsdienst kontaktiert werden. Die Notfallseelsorger können über die Rufbereitschaft an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr alarmiert werden. ??cc

Selbsthilfe in Schocksituationen

Wer ein belastendes Ereignis erlebt hat, sollte sich Zeit nehmen, um das Geschehen zu verarbeiten.

Betroffene sollten auf ihre Bedürfnisse achten: Was hat bei Krisen gut getan? Was bereitet Freude und Entspannung? Welche Personen können unterstützen?

Das Gespräch suchen: Menschen, die mit einem belastenden Ereignis umgehen müssen, sollten über ihre Gefühle sprechen – zum Beispiel mit vertrauten Personen.

Betroffene sollten nicht zögern, psychologische und seelsorgliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Quelle: Der Patriot - Lippstädter Zeitung

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