28 Nov '22

Tödlicher Tritt aufs Gaspedal: Jessica und Thomas verloren durch einen Raser ihr Leben

Heike Gösmann ist seit 25 Jahren Notfallseelsorgerin. Sie wird zum Einsatz gerufen, um Menschen in seelischen Ausnahmesituationen aufzufangen – und, um Angehörigen von Unfallopfern gemeinsam mit der Polizei die Todesnachricht zu überbringen. Beim Projekt „Crashkurs NRW“ erzählt sie Schülern, in welche Ausnahmesituationen Verkehrsunfälle sie gebracht haben, zuletzt am Börde-Berufskolleg in Soest. In einer fünfteiligen Serie erzählen wir die Geschichten der Einsatzkräfte. Ihre Erlebnisse sollen ungeschönt zeigen, welch schreckliche Folgen eine einfache Fehlentscheidung im Straßenverkehr nach sich ziehen kann.

Es ist der 16. November 2010, die ehrenamtliche Seelsorgerin Heike Gösmann wird mit einem Kollegen zu einem schweren Verkehrsunfall auf der B 1 gerufen. Die Informationen sind dürftig, die Rettungsleitstelle sagt ihr: „Beeilt euch, ein Vater ist schon an der Einsatzstelle. Es gibt einen Toten, für einen weiteren Beteiligten sieht es kritisch aus.“

Wenig später steht Gösmann auf der B 1 bei Erwitte-Eikeloh. Überall liegen Wrackteile, ein völlig zerstörtes Auto steht auf der Bundesstraße, zwei liegen im Graben. „Wir müssen durch die Einsatzstelle, um zum Einsatzleiter zu gelangen“, erinnert sich Gösmann. Der berichtet den Seelsorgern: Zwei junge Menschen sind tot, drei weitere schwer verletzt. Zuerst müssen Gösmann und ihr Kollege sich um den Vater des 22-jährigen Unfallverursachers kümmern. Er war, kurz nachdem der Unfall gegen 18 Uhr geschehen war, vor Ort aufgetaucht. Sein Sohn ist bereits auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Vater lehnt die Hilfe der Seelsorger ab. Deshalb bereiten sie sich nun darauf vor, den Eltern der beiden Verstorbenen die schlimmste nur denkbare Nachricht zu überbringen.

„War es Zufall, dass sich ihre Hände berührten? Sie liegen da ganz friedlich, aber sie sind tot.“

„Wir haben uns die Verstorbenen vom Einsatzleiter zeigen und uns einen aktuellen Ermittlungsstand der Polizei geben lassen“, erklärt Gösmann. „Dieses Bild werde ich so schnell nicht vergessen. Da liegen zwei abgedeckte junge Menschen, ein junges Paar, nebeneinander im Straßengraben. Der Rettungsdienst hat die beiden nach der Bergung aus dem Auto nebeneinandergelegt. War es Zufall, dass sich ihre Hände berühren? Sie liegen da ganz friedlich, aber sie sind tot.“ Dieser Moment der Stille habe sie sehr traurig gemacht, sagt sie.

Doch viel Zeit blieb nicht, das weitere Vorgehen musste organisiert werden. Weil zwei Elternpaare über den Tod ihrer Kinder benachrichtigt werden müssen, wird ein weiteres Seelsorger-Team nachgefordert. „Wenig später stehen wir vor dem Elternhaus der tödlich verunglückten jungen Frau. In diesem Moment bekommen die Verstorbenen einen Namen, eine Familie, eine Geschichte. In dem Moment, in dem wir die Klingel betätigen, ändert sich für die Familie alles, sie fallen ins Bodenlose.“ Der Vater von Jessica, der 26 Jahre jungen Fahrerin des Fiats, in den der Unfallverursacher von hinten gekracht war, öffnet die Tür. Er ist irritiert, versteht nicht, warum Uniformierte vor ihm stehen.

Schreie der Verzweiflung, Wutausbrüche, Stille

Er lässt sie herein, Jessicas Mutter und ihre Oma kommen hinzu. Sie bekommen gemeinsam die traurige Nachricht überbracht. Wie genau die folgenden Sekunden, Minuten und Stunden danach aussahen, möchte Heike Gösmann aus Rücksicht auf die Angehörigen nicht sagen. Doch sie erzählt: „In vielen Jahren der Notfallseelsorge habe ich viele Reaktionen erlebt. Schreie der Verzweiflung, Wutausbrüche, manchmal verschlägt es den Angehörigen die Sprache.“ Gösmanns Aufgabe ist es, in diesen Momenten da zu sein, Orientierung zu geben, den Angehörigen eine starke Schulter zu geben - manchmal muss sie sie auch vor sich selbst schützen: „Eine Mutter wollte ihrem Kind einmal in den Tod folgen“, erzählt sie.

Der Tod von Jessica spricht sich schnell herum, Nachbarn kommen, Freunde. Alle reden über die letzten Momente mit Jessica. Weit nach Mitternacht, der Unfall liegt bereits viele Stunden zurück, ziehen sich die beiden Seelsorger zurück, machen den Angehörigen jedoch deutlich: Wir sind weiter für euch da. Auf der Rückfahrt beginnt die eigene Nachsorge. „Auch wir müssen uns das von der Seele reden“, betont Gösmann.

Seelsorger werden zu Einsatzstellen gerufen, wenn Menschen seelisch betroffen sind, sie begleiten Menschen in Ausnahmesituationen, nach einem Todesfall, einer Gewalt-Erfahrung, einer Umweltkatastrophe, einem Suizid, wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wird. „Zwei junge Menschen, Jessica und Thomas, haben durch diesen Unfall ihr Leben verloren. Später haben wir erfahren, dass Thomas Jessica im Dezember einen Heiratsantrag machen wollte“, sagt Heike Gösmann.

„Da steht zwar 70, aber ich kann auch 100 km/h schnell fahren - und ich kann überholen“

Und noch etwas kommt heraus: „Es macht mich noch immer wütend, dass dieser Unfall vermeidbar gewesen wäre. Ein junger Mensch dachte sich an diesem Abend: ‚Da steht zwar 70, aber ich kann auch 100 km/h schnell fahren – und ich kann überholen.’ Wie wir sahen, er konnte es nicht. Drei Menschen wurden durch diese Entscheidung in den Tod gerissen. Die beiden jungen Menschen starben sofort, ein weiterer Beteiligter an den Folgen seiner Verletzungen. Nur, weil einer sagte: ‚Ich kann’.“

Die Serie

„Crashkurs NRW“ ist eine Zusammenarbeit zwischen Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Notfallseelsorge, Verkehrsunfallopfern und deren Angehörigen. Ziel ist es, den jungen Teilnehmern zu verdeutlichen, welch hohe Gefahr im Straßenverkehr von Raserei, Alkohol und Drogen am Steuer, Leichtsinn, überhöhter Geschwindigkeit, fehlender Gurte und Ablenkung durch das Handy im Straßenverkehr ausgeht. In fünf Serien-Teilen erzählen wir die Geschichten von Einsatzkräften und einer Unfall-Beteiligten.

Text und Fotos: Daniel Schröder (Soester Anzeiger)

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