15 Nov '18

Nichts ist danach mehr, wie es vorher war

„Nein! Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!“ Abwehr, Unverständnis, Ablehnung schlagen Heike Gösmann zuerst entgegen. Dann kommen Verzweiflungsschreie, Wutausbrüche oder totales Verstummen. Die ausgebildete Rettungssanitäterin kennt diese Reaktionen. Niemand verkraftet es auf Anhieb, wenn es unerwartet an der Tür klingelt und die schlimme Nachricht überbracht wird: Ihr Angehöriger – Mann, Frau oder Kind – ist tot.
„Nichts ist danach mehr wie vorher“, sagt Heike Gösmann. „Meine Aufgabe ist es, in diesem Moment Hilfe und Orientierung zu geben.“ Sie bleibt so lange bei den Betroffenen, bis das weitere Vorgehen geklärt ist und sie den Eindruck hat, andere, beispielsweise Nachbarn oder Freunde, helfen weiter.

Sie versucht auch, vorschnellen Handlungen vorzubeugen: „Wenn die Betroffenen zum Beispiel sofort zum Unfallort fahren wollen. Das wäre in dieser Situation viel zu belastend.“ Viele könnten nach einer Schocknachricht zunächst nicht mehr klar denken, da sie sich in einer psychischen Ausnahmesituation befänden.

Vor mehr als 20 Jahren hat Heike Gösmann dieses Ehrenamt übernommen. Damals erlebte sie im Rettungsdienst mit, wie die Reanimation eines Unfallopfers scheiterte. Die Ehefrau sah, wie ihr Mann starb. „Ich kann einen Menschen doch in der Situation nicht allein lassen“, dachte Heike Gösmann und kümmerte sich. Heute ist sie Fachberaterin Psychotraumatologie bei der Feuerwehr Lippstadt und ehrenamtlich in der Notfallseelsorge tätig. „Die Überbringung einer Todesnachricht ist hoheitliche Aufgabe der Polizei. Doch es ist gut, wenn wir die Beamten begleiten und Zeit für die Angehörigen mitbringen“, sagt sie.

Wenn Heike Gösmann Dienst hat, ist sie rund um die Uhr in Rufbereitschaft. 61 Mal wurde sie in diesem Jahr schon angefordert. Einer dieser Einsätze war ihr 600. „Mit den Kollegen von der Polizei treffe ich mich an der Wache und kläre die Fragen, die mir erfahrungsgemäß am Einsatzort gestellt werden: Wo ist mein Angehöriger? Kann ich ihn sehen? Wo kann ich mich von ihm verabschieden?“, erläutert die Fachfrau ihr Vorgehen.

Hinterbliebenen ist es in der Regel sehr wichtig, Abschied nehmen zu können. Sie wollen im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, dass der Angehörige wirklich tot ist. Sie möchten den Verstorbenen sehen, einen letzten Kuss geben, vielleicht seine Hand halten. „Nach einem schweren Unfall muss es aber manchmal reichen, nur den geschlossenen Sarg sehen zu können“, beschreibt Heike Gösmann ihre Erfahrungen.
Und sie weiß auch, wie wichtig es ist, direkt nach jedem Einsatz für sich selber zu sorgen. Das kann ein Spaziergang mit dem Hund sein oder der Griff zum Saxofon, um in die Welt der Musik einzutauchen.
Zu sich selber finden, damit der professionelle Abstand zu den Betroffenen nicht verloren geht – das ist entscheidend. Darum tauscht sich Heike Gösmann gerne mit Kollegen aus und nutzt die Supervision. Nur dann kann sie auch beim nächsten Einsatz wieder Halt, Orientierung und Hilfe geben.

Quelle: Soester Anzeiger

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