06 Jun '18

„Einsatzkräfte haben Höchstleistung erbracht“

Sintflutartiger Regen, überflutete Keller, unpassierbare Straßen: Das Unwetter, das am Freitag unter anderem Soest, Lippstadt und Erwitte heimsuchte, hatte es in sich. Zwischen 60 bis 80 Liter Regen pro Quadratmeter gingen mancherorts herunter. Die Einsatzkräfte waren an hunderten Einsatzorten massiv gefordert. Kreisbrandmeister Thomas Wienecke gibt dazu eine Einschätzung ab – auch mit Blick auf den Druck, dem neben den Einsatzkräften auch das Team in der Kreisleitstelle ausgesetzt war.

In welche Kategorie stufen Sie die Ereignisse am Freitag ein?

Wienecke: Das war ein massives Starkregenereignis mit Gewitterzellenbildung. Etwas, das immer häufiger so kommen wird, denn das Wetter ändert sich. Da sind sich die Fachleute einig. Diesmal hat es den Kreis Soest getroffen, an anderen Tagen sind andere Regionen dran.

Gibt es vergleichbare Ereignisse in den vergangenen Jahren?

Wienecke: Vor Jahren ist in Warstein die Wester in einer solchen Situation über die Ufer getreten. Und auch sonst gab es in verschiedenen Bereichen im Kreisgebiet immer mal wieder ähnliche Ereignisse. Neu ist diesmal, dass so etwas mitten in der Soester Innenstadt passiert. Und dann ging es ja noch weiter: Im Möhnetal bei Warstein, vom Lippstädter Süden über Overhagen bis Eickelborn, im westlichen Erwitter Bereich...

Also eine besondere Herausforderung für die Einsatzkräfte...

Wienecke: Allerdings. Das Problem sind in einer solchen Situation die Gewitterzellen. Anders als bei Wind, der sich gut voraussagen lässt, sind Gewitter ziemlich tückisch. Diese Zellen können wir mit etwa 15 Minuten Vorlauf voraussagen. Aber aus kleinen Zellen können sich auch plötzlich große entwickeln, die dann wiederum auf einmal einen Haken schlagen. Und keiner weiß warum. Das kann selbst der Deutsche Wetterdienst nicht voraussagen. Genau dieses Phänomen hatten wir am Freitag in Soest. Laut Prognose sollten Gewitter und Regen weiter nach Welver ziehen. Stattdessen drehte sich alles immer weiter über der Stadt. In Lippstadt und Erwitte war es dann später ähnlich.

Wie bereiten Sie sich dann auf eine solche nur schwer kalkulierbare Lage vor?

Wienecke: Wir versuchen grundsätzlich immer, vor die Lage zu kommen und vorausschauend zu handeln. Aber manchmal wird man einfach überholt. Ein solches Unwetter der Warnstufe rot gibt es bei uns inzwischen 50- bis 60-mal im Jahr. Die Maßnahme, alle Wachen zu besetzen, gilt daher erst bei Warnstufe violett. Diesmal blieb es offiziell bei rot, obwohl es gefühlt bereits deutlich violett war.

Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Zusammenarbeit der Einsatzkräfte ein?

Wienecke: Als das Problem erkannt war, haben wir sofort auf den Knopf gedrückt. Wir haben für solche Großeinsatzlagen zusammen mit allen Wehrleitern ein System entwickelt, das am Freitag mit Note eins funktioniert hat. Über das System sorgen wir nicht nur für überörtliche Hilfe, in deren Sinne alle 14 Wehren im Kreisgebiet kooperieren. Wir halten auch immer noch Kräfte der Wehren zurück, die im Fall der Fälle frisch und unverbraucht sind. So waren wir für Soest gut aufgestellt, haben die Lage gut in den Griff bekommen. Das hat funktioniert wie geschnitten Brot. Gleichzeitig hatten wir noch genug Kräfte in der Hinterhand, um auch die Lagen in Lippstadt und Erwitte gut bewältigen zu können. Das System ist übrigens erstmals in Gänze in der Praxis zum Einsatz gekommen.

Dennoch ist ein solcher Marathon für alle Beteiligten sicher kräftezehrend. Was bedeutet es beispielsweise, wenn an einem Tag – wie am Freitag – 700 Notrufe bei der Kreisleitstelle auflaufen?

Wienecke: Die Schwierigkeit liegt darin, die Anrufe möglichst schnell und dennoch effektiv abzuarbeiten. Denn es kann ja noch ein ganz anderer Notruf in der Leitung sein. Wir haben das Personal in der Leitstelle aufgestockt. Und trotzdem konnten die Kollegen teils noch nicht einmal ihren Bedürfnissen nachgehen – so eingespannt waren sie. Sie haben absolute Höchstleistung erbracht, das war hervorragend. Grundsätzlich lief aber alles auf mehr als Voll-Last. Denn die Kapazitäten jedes Rettungssystems sind immer irgendwo begrenzt.

Nach den Ereignissen in Soest konzentrierte sich ja plötzlich alles auf Lippstadt und Erwitte. Wie hat sich dieser Druck auf die Beteiligten ausgewirkt?

Wienecke: Das stresst einen schon extrem, kostet Kraft. Wir hatten alle gerade durchgeatmet, weil wir dachten, wir hätten es geschafft. Und plötzlich gab es Vollalarm in Lippstadt und Erwitte. So etwas betrifft alle, die beteiligt sind. Wir, der Einsatzstab und die Leitstelle, standen psychisch unter Druck, alle Kameraden draußen körperlich. Gerade in einer solchen Situation muss das Zusammenspiel funktionieren. Und man muss versuchen, sich gedanklich frisch zu machen. Ich spreche sicher nicht nur für mich wenn ich sage, dass ich – als ich irgendwann zu Hause im Bett lag – augenblicklich eingeschlafen bin.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ereignissen für die Zukunft?

Wienecke: Wir sind ständig in der Diskussion, wie sich die Hilfeleistung für die Bürger noch verbessern lässt. Das betrifft auch Bereiche wie Ausrüstung und Material für die Einsatzkräfte, was natürlich Geld kostet. Hier ist die Politik am Zug – aber auch dort hat es inzwischen ein Umdenken gegeben.

Wasser im Keller und überflutete Straßen erinnern an diverse Hochwasserereignisse in den letzten Jahren. Was war diesmal anders?

Wienecke: Es gibt einen deutlichen Unterschied zu Starkregen wie am Freitag. Denn gegen Starkregen, der punktuell und schlagartig auftritt, kann man sich nicht schützen. Da hilft nur, sich ausreichend zu versichern. Und es ist äußerste Vorsicht beim Betreten von Kellerräumen angezeigt. Im Wasser, das sich dort sammelt, kann es einen lebensgefährlichen Stromschlag geben. Viele Menschen kommen dabei erfahrungsgemäß zu Schaden.

Um die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen, wurde die Warn-App Nina veröffentlicht. Wie hat sie Ihrer Einschätzung nach am Freitag funktioniert?

Wienecke: Erstmal möchte ich dazu einen Appell an alle Bürger loswerden: Ladet euch die Warn-App Nina herunter! Denn sie gibt im Ernstfall Warnhinweise für die einzelnen Städte im Kreisgebiet. Am Freitag hat das System sehr gut funktioniert. Die Leitstelle hat die Meldungen abgesetzt, die wir vom Einsatzstab vorher vorbereitet hatten. Nach Möglichkeit versuchen wir auch auf diesem Weg immer, frühzeitig zu informieren. Umso wichtiger ist es, dass noch deutlich mehr die App Nina verwenden.

Quelle: Der Patriot - Lippstädter Zeitung